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FM - Wahrnehmung
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aon gmbh – academy of neuroscience
6. Schlussbemerkungen
Bei aller Verschiedenheit der Sinnessysteme und der Wahrnehmungen so sind doch einige Grundprinzi-
pien erkennbar. Eines dieser Prinzipien ist die Arbeitsteilung. Der Vorteil liegt auf der Hand: die Informa-
tionsflut, die den Organismus erreicht, wird bereits auf der Ebene der Sinnesorgane gefiltert bzw. selek-
tiert, so dass nur ein Bruchteil in die weitere neuronale Verarbeitung einfließt. Anschließend wird die
Information in verschiedene Verarbeitungsstränge segregiert, die auf die Prozessierung bestimmter Para-
meter der eingehenden Signale optimiert sind. Beispiele finden sich im visuellen System, in dem die
Verarbeitung von Spektrum des Lichtes, Form, Bewegung etc. bereits sehr früh separiert wird. Im audi-
torischen System werden Informationen über die Richtung des Schalls, über Tonhöhen oder die zeitliche
Feinstruktur ebenfalls getrennt verarbeitet. Auch auf der Ebene des Cortex werden verschiedene Aspekte
der Information in separaten neuronalen Netzen bzw. Karten repräsentiert.
Zwar durchmischen sich auf der cortikalen Ebene teilweise wieder die Verarbeitungsstränge, auch
interagieren verschiedene Sinnesmodalitäten, aber an keiner Stelle im Cortex konvergieren die Verarbei-
tungskanäle in den verteilten Neuronenpopulationen so, dass eine gesamtheitliche Repräsentation von
Objekten erreicht wird. Noch in den 1960er und 1970er Jahren wurde diese Möglichkeit in Betracht
gezogen, sie gilt heute aber als widerlegt. Daraus entsteht auf der physiologischen Ebene die Notwen-
digkeit zu klären, wie aus den verschiedenen Sinneseindrücken und Verarbeitungswegen eine einheitliche
Wahrnehmung konstruiert wird. Dies wird heute unter dem Stichwort Bindungsproblem zusammen-
gefasst. Aus der Tatsache, dass ein Objekt niemals isoliert in der Umwelt existiert, sondern immer in eine
komplexe Szenerie eingebettet ist, ergibt sich außerdem die Frage nach dem Mechanismus, wie
beispielsweise auditorische oder visuelle Szenen segmentiert und einzelne Objekte selektiert werden.
In theoretischen Ansätzen wurde darauf hingewiesen, dass die Bindung nicht durch räumliche, sondern
zeitliche Integration im Gehirn realisiert sein könnte. Durch sehr genaue Synchronisation der Aktivität
derjenigen Neuronen, die bestimmte Merkmale eines Objektes selektieren, würde eine perzeptive Einheit
realisiert. Die Desynchronisation anderer neuronaler Verbände würde das Perzept gegenüber einem
diffusen Hintergrund hervortreten lassen. Im Sehsystem konnten in der Tat Synchronisationsphänomene
nachgewiesen werden. Belege für eine funktionelle Bedeutung einer solchen Zeitcodierung wurden
ebenfalls gefunden.
Bisher hat die Analyse der aufsteigenden sensorischen Bahnen im Vordergrund gestanden. Die meisten
Verbindungen im Gehirn sind jedoch reziproker Natur. Die Bedeutung deszendierender Einflüsse auf die
Verarbeitung sensorischer Information ist aber bisher nur ungenügend verstanden. Weitere zu berück-
sichtigende Faktoren sind die aufmerksamkeitsabhängige selektive Wahrnehmung und die Rolle des
Gedächtnisses. Auch hier sind die neuronalen Grundlagen noch zu wenig verstanden. Je weiter der