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BM – Grundlagen der Neurowissenschaften
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aon gmbh – academy of neuroscience
7.1.2
Die langsame („zweite“) Stressreaktion
Über diesen Weg wird der Organismus, etwas zeitverzögert, in einen allgemeinen „Ausnahmezustand“
versetzt, der, im Gegensatz zum Alarmzustand der SNA, den Körper eher lähmt als aktiviert. Durch
Dauerstress verursachte Erkrankungen werden durch diese Achse mitverursacht. Beim Menschen wird
die langsame Stressachse auch als Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse (HHNA)
bezeichnet.
Der Beginn der Signalkaskade verläuft ähnlich wie bei der SNA, nämlich über die Situationsbewertung
einlaufender sensorischer Signale durch den Cortex und das Limbische System. Wird die Situation als
belastend bewertet, wird der Hypothalamus zur Ausschüttung eines Signalpeptids angeregt, des
Corticotropin-Releasing-Hormons (CRH). Bei der SNA spielt der Thalamus ebenfalls eine Rolle, jedoch
dadurch, dass er im Falle einer langsamen Stressreaktion auf anderem Wege und an anderer Stelle
aktiviert wird, kann er – vermenschlicht formuliert – die verschiedenen Signale unterscheiden und auf
jedes Signal entsprechend reagieren. Das CRH hat verschiedenartige Wirkungen, da es sowohl als
Hormon als auch als Neurotransmitter fungieren kann. Es kann die SNA aktivieren, es fungiert im
Hippocampus und der Amygdala als Neurotransmitter und, als wichtigste Funktion, es aktiviert die
Hypophyse. Im Vorderlappen der Hirnanhangdrüse wird die Synthese und Ausschüttung eines weiteren
Hormons induziert, des Adrenocorticotropten Hormons (ACTH). Über die Blutbahn erreicht dieses
Hormon die Nebennierenrinde (den „Cortex“ der Adrenae) und verursacht dort die Freisetzung von
Glucocorticoiden, besonders Cortisol, das für die meisten Effekte der HHNA verantwortlich ist.
Cortisol aktiviert bestimmte Stoffwechselprozesse, durch die der Organismus mit energiereichen
Molekülen versorgt werden kann, hauptsächlich Fettsäuren und Glucose. Außerdem dämpft Cortisol die
Aktivität des Immunsystems und drosselt Entzündungsreaktionen. Es wirkt auch auf bestimmte
Funktionsbereiche des ZNS; es wirkt negativ auf die Informationsverarbeitung und die Gedächtnisbildung,
auf Schlaf und auf das Sexualverhalten. Der Effekt des Cortisols basiert auf der Regulation bestimmter
Genaktivitäten; es dringt in den Zellkern ein und bindet an einen Glucocorticoidrezeptor. Beide
zusammen fungieren nun als Transkriptionsfaktor, der die Expression zahlreicher Gene verstärkt. Dieser
Mechanismus erklärt, warum die Wirkungen von Cortisol im Vergleich zu anderen Hormonen erst mit
Verzögerung einsetzen.
Die langsame Stressreaktion enthält eine negative Rückkoppelungsschleife. ACTH und Cortisol hemmen
die weitere Freisetzung von CRH aus dem Hypothalamus, wobei Cortisolrezeptoren im Hippocampus
eine wichtige Rolle spielen. Dadurch wird ein Überschießen der Stressreaktion verhindert. Bei typischen
Erkrankungen durch Dauerstress scheinen Defekte innerhalb dieser Rückkoppelungsschleife vorzuliegen,
z.B. eine Störung der Kontrollfunktion des Hippocampus, so dass der Plasmaspiegel der Stresshormone
nicht mehr absinkt. Ein weiteres Regulativ stellen die Hormone Somatostatin, Prolaktin und Oxytocin dar,
die das Aktivitätsniveau der gesamten Stressachse drosseln können.
Als Zusammenfassung für die langsame Stressreaktion kann man folgendes formulieren: