Grundlagen der Neurowissenschaften - page 63

BM – Grundlagen der Neurowissenschaften
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aon gmbh – academy of neuroscience
Allein an einem unwillentlichen Schutzreflex sind zahlreiche Einzelreaktionen beteiligt, die bezüglich ihrer
Komposition, ihrer Intensität und ihrer zeitlichen Abfolge exakt aufeinander abgestimmt sein müssen. Also
müssen auch die zugehörigen neuronalen Regelsysteme exakt miteinander kooperieren. Der sensorische
Input muss korrekt interpretiert werden, der Muskeltonus und der Blutdruck müssen erhöht werden,
Stresshormone müssen freigesetzt, andere Systeme müssen heruntergefahren werden und vieles mehr.
Erst durch die Zusammenarbeit zahlreicher Subsysteme, die in verschiedenen Hirnarealen liegen, kann
eine sinnvolle, erfolgreich schützende Gesamtreaktion entstehen.
Das limbische System ist ein gutes Beispiel für ein grundsätzliches Problem der Gehirnforschung.
Funktionell geht es um die Regulierung motivationsgesteuerter Verhaltensweisen wie beispielsweise
Flucht, Lust, Angriff, Essen, Spielen, Lernen und Fürsorge/Bindung. Erst durch die Kooperation
zahlreicher Einzelstrukturen, durch Regelkreise und Rückkoppelungen mit dem Organismus entstehen
die beobachtbaren Verhaltensweisen. Es ist nie eine einzige neuronale Struktur, sondern der
Funktionsverband mehrerer Strukturen, die einen Effekt hervorbringen. Daher ist man sich bis heute nicht
ganz sicher, welche und wie viele Einzelstrukturen als Teil des limbischen Systems angesehen werden
sollen. Stößt man in der Fachliteratur auf den Begriff „Limbisches System“, kann man sich als Leser
eigentlich nicht sicher sein, welche Gehirnareale der Autor insgesamt meint. Weiter oben sind aber
Strukturen genannt, die inzwischen alle Experten als „limbisch“ bezeichnen – über den Rest mag man
streiten!
Ein überaus interessantes Problem bezüglich der Kooperation und Koordination neuronaler Systeme ist
das sogenannte Bindungsproblem: Wie integriert das Gehirn eine Vielzahl von Sinneseindrücken zu einer
einheitlichen Wahrnehmung eines Objekts? Wie werden beispielsweise der Geruch stinkender
Auspuffabgase, die Farbe, Form und Geschwindigkeit eines Autos und ein lautes Hupgeräusch zu einer
einzigen Wahrnehmung miteinander verbunden? Die Suche nach einem Ort im Gehirn, an dem diese
Einzelinformationen zusammengetragen werden, war bis heute ergebnislos – nicht nur für das Beispiel
„Auto“.
Nach heutiger Vorstellung erfolgt eine derartige Integration nicht aufgrund räumlicher, sondern aufgrund
zeitlicher Eigenschaften der Informationsverarbeitung. Viele Hirnforscher meinen, dass Einzeldaten
dadurch zusammengefügt werden, dass verschiedene Neuronenverbände im Gleichtakt, also „synchron“
feuern. Synchronizität der Verarbeitungsprozesse scheint nach dieser Theorie die Voraussetzung dafür zu
sein, dass einzelne Reize zu einem Gesamteindruck verbunden werden können.
Ein ähnliches Problem ist die Suche nach einem neuronalen Korrelat für das „Ich“. Es gibt kein
Sammelzentrum im Gehirn, an dem alle Informationen zusammenfließen. Für das Empfinden eines „Ichs“,
in dem alles zu einem homogenen, einheitlichen Gefühl „man selbst zu sein“ zusammenfließt, existiert
kein neuronales Äquivalent. Das Gehirn als Ganzes, seine Leistungen insgesamt, machen das „Ich“ aus.
Das Ganze ist eben deutlich mehr als die Summe der Einzelteile – strukturell und funktionell.
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