BM – Grundlagen der Neurowissenschaften
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aon gmbh – academy of neuroscience
Dieses Prinzip der ortsabhängigen Qualitätskonstruktion gilt für alle Sinneswahrnehmungen und überdies
für alle kognitiven und limbischen Funktionen. Bestimmte Phantomempfindungen von
Amputationspatienten unterstützen ebenfalls diese Theorie. Alle Nervenbahnen, die ihren Ursprung in
dem amputierten Körperteil hatten, liegen noch immer im verbliebenen Anteil des Körpers. Werden am
Stumpf sensorische Nerven gereizt, die einem amputierten Fuß entsprungen sind, werden die Signale zu
einem definierten Areal des sensomotorischen Cortex geleitet, an dem, entsprechend dem Grundbauplan
der Säugetiere, alle sensorischen Signale des Fußes ankommen und als dem Fuß entspringende
Wahrnehmungen übersetzt werden.
Man fühlt den Fuß, der nicht mehr vorhanden ist. Bei einem fehlenden Körperteilexistieren seine
Nervenbahnen zum Gehirn noch weiterhin. Darum können Signale immer noch geleitet und an den
corticalen Zielorten zu einer Wahrnehmung umgedeutet werden.
Um Missverständnissen vorzubeugen: Der neurobiologische Konstruktivismus ist nicht die einzige,
sondern lediglich eine von mehreren Erkenntnistheorien, wenngleich die empirisch-neurobiologisch am
besten fundierte. Wie immer man auch die Entstehung von Wahrnehmung und Wirklichkeit erklären
möchte – man muss sich auf jeden Fall mit dem Problem auseinandersetzten, wie aus ins Gehirn
einlaufenden Quantitäten wahrgenommene Qualitäten entstehen.