Grundlagen der Neurowissenschaften - page 62

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BM – Grundlagen der Neurowissenschaften
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aon gmbh – academy of neuroscience
Auch diese Region, die man zusammenfassend als Region für das Urteilsvermögen beschreiben kann, ist
nicht klar abgrenzbar. Übrigens erlangt im Verlauf der individuellen Hirnentwicklung genau dieses
Hirnareal als letztes seine vollständige Ausreifung – mit ungefähr 20 Jahren.
Schauen wir uns im Folgenden einige Beispiele klar definierbarer Rindenfelder an: Spiegelbildlich
angeordnet ist das primäre motorische Rindenfeld. Es liegt vor der Zentralfurche im Gyrus praecentralis
und ist für die Steuerung der Feinmotorik, also der detaillierten willkürlichen Muskelbewegungen
zuständig. Das ebenfalls paarig angelegte somatosensorische Rindenfeld liegt im Gyrus postcentralis,
also direkt hinter der Zentralfurche. In diesem für das „Körperempfinden“ zuständige Feld laufen die
Signale der Sinnesorgane in der Haut, den Knochen, Gelenken oder Muskeln zusammen. Allerdings
projizieren die Sinnesorgane zunächst zum Thalamus, und der wiederum leitet dann die Signale weiter
zum Cortex. Beiden Rindenfeldern ist gemeinsam, dass jedem Körperteil ein bestimmter Bereich des
Rindenfeldes zugeordnet werden kann und letztlich der gesamte Körper mehrfach (d.h. getrennt nach
unterschiedlichen somatosensorischen und somatomotorischen Rezeptoren) auf einem schmalen
Cortexstreifen abgebildet wird. So entsteht in jedem der beiden Rindenfelder ein mehrfacher parappeler
Homunculus, ein verzerrtes Abbildung eines Menschen, das allerdings auf dem Kopf steht. Körperteile,
die stark innerviert werden, sind dabei besonders groß abgebildet. Eine weitere Gemeinsamkeit ist die
Verschaltung: die Rindenfelder der rechten Hemisphäre sind für die linke Körperhälfte zuständig, und die
linken Rindenfelder für die rechte Körperhälfte. Weitere paarig angelegte primäre Rindenfelder sind das
primäre Hörzentrum im Temporallappen, die Sehrinde, die den gesamten Occipitallappen einnimmt,
sowie das Geschmackszentrum im Bereich des insulären Cortex, einem nach innen gefalteten Abschnitt
zwischen Frontallappen und vorderem Schläfenlappen. Assoziative Rindenfelder, die in ihrer Gesamtheit
auch als Assoziationscortex bezeichnet werden, sind mit ihresgleichen und mit anderen Rindenfeldern
verbunden; sie erhalten wederdirekte Afferenzen von den Sinnesorganen, noch gehen motorische
Efferenzen direkt von ihnen aus. Weitere wichtige Felder sind das Broca-Areal und das Wernicke-Areal,
die sich in den meisten Fällen auf der linken Hirnseite befinden und für Sprache zuständig sind. Das
Broca-Areal nimmt die Funktion des grammatikalisch-syntaktischen Sprachzentrums ein, und das weiter
posterior gelegene Wernicke-Areal die Funktion des lexikalischen Sprachzentrums und des einfachen
Sprachverständnisses. Auf der gegenüberliegenden Seite des Wernicke-Areals und des Broca-Areals
findet ebenfalls eine Verarbeitung von Sprachlauten statt, jedoch nicht auf einer kognitiven, sondern auf
einer emotionalen Ebene. Besonders das emotionale Musikverständnis ist lokalisiert.
6.4
Das Ganze ist mehr als die Summe der Teile
Wenn im Laufe der Evolution neue Strukturen entstehen oder bereits existierende Strukturen modifiziert
werden, erfolgen diese Veränderungen immer in Abhängigkeit der bereits bestehenden Strukturen und
Funktionen. Neues entsteht niemals isoliert, sondern immer nur in Abhängigkeit von und in Kooperation
mit bereits Bestehendem! So ist es auf Grund dieses Prinzips nicht weiter erstaunlich, dass verschiedene
Bereiche des Gehirns nicht nur strukturell sondern auch funktionell miteinander verbunden sind. Das
Gehirn ist also ein Organ, das sich nur ganz langsam und behutsam entwickelt hat.
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