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BM – Grundlagen der Neurowissenschaften
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aon gmbh – academy of neuroscience
7.
Signalwege am Beispiel der Stressreaktionen
Im letzten Kapitel werden wir uns damit beschäftigen, wie einzelne Strukturen miteinander kooperieren,
und wie durch diese Zusammenarbeit Signalwege entstehen und Reaktionen koordiniert werden. Am
Beispiel von Stressreaktionen werden wir erfahren, auf welch vielfältige Weise unser Organismus
Informationen verarbeiten kann und in welch unterschiedliche Resultate diese Informationsverarbeitungen
münden können.
7.1
Stressreaktionen
Eine Stressreaktion ist eine Kombination aus körperlichen und psychischen Reaktionen als Antwort auf
eine akute, aber auch auf eine andauernde, als Belastung oder Gefahr interpretierte Situation. Die
Stressreaktion ist, wie letztlich alle anderen Systeme auch, das Resultat evolutionärer Prozesse. Sie
sichert das Überleben in Gefahrensituationen, und zwar durch eine Reihe verschiedener Reaktionen. Der
Grundumsatz des Organismus wird erhöht, und damit auch die Kerntemperatur. Durch eine
Temperaturerhöhung laufen chemische Prozesse schneller ab. Um eine Überhitzung zu vermeiden, wird
die Schweißproduktion erhöht. Durch die Erweiterung der Pupillen wird das Sichtfeld erweitert.
Entzündungsreaktionen werden unterdrückt und Verdauungsprozesse gestoppt. Die Herzfrequenz wird
gesteigert und dadurch der Blutdruck erhöht, wodurch wiederum die Durchblutung der Muskulatur
verstärkt wird. Gespeicherte rote Blutkörperchen, auch Erythrocyten genannt, werden in die Blutbahn
geschüttet – beispielsweise aus der Milz. Durch Erhöhung der Atemfrequenz steigt auch der
Sauerstoffgehalt des Blutes. Der erhöhte Energiebedarf wird dadurch gedeckt, dass aus
Speichergeweben Nährstoffe freigesetzt werden: Fettsäuren aus Fettgeweben und Glucose aus Muskeln
und der Leber.
Es ist leicht nachvollziehbar, dass eine derartige Vielfalt an Reaktionen nicht durch ein einziges
Regulationssystem ausgelöst oder gesteuert werden kann. Bei der Auslösung von Stressreaktionen ist
neben dem Nervensystem ein weiteres wichtiges Kommunikationssystem des Organismus beteiligt: das
Hormonsystem. Je nach Art der Kooperation dieser beiden Systeme entstehen eine schnelle und eine
langsame Stressreaktion. Beiden Systemen ist gemeinsam, dass zunächst über äußere und innere
Sinnesrezeptoren Signale zum limbischen System und zu anderen Regionen des Großhirns geleitet
werden. Erst wenn diese Regionen die einlaufenden Signale als Stressreize bzw. insgesamt als
Stresssituation interpretieren, werden Stressreaktionen in Gang gesetzt.
Bei der schnellen Stressreaktion ist der Hauptweg für den Informationstransfer der Nervussympathicus,
und die Haupteffektoren sind die schnell wirkenden Katecholamine Adrenalin und Noradrenalin. Bei der
langsamen Stressreaktion sind die Hauptwege für den Signaltranser die Blutgefäße, und der
Haupteffektor ist das langsam wirkende Glucocorticoid Cortisol.