Grundlagen der Neurowissenschaften - page 64

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BM – Grundlagen der Neurowissenschaften
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aon gmbh – academy of neuroscience
6.5
Das Mysterium der Decodierung
Die Welt, in der wir leben, nehmen wir als schattierten, farbigen, dreidimensionalen und mit Personen,
Objekten und Bewegungen erfüllten Raum wahr. Der physikalische Raum wird auf eine zweidimensionale
Netzhaut abgebildet, deren Sinneszellen „eindimensionale“ Aktionspotenziale erzeugen. Zwar gibt es je
nach verwendeten Ionen und Kanälen verschiedene Formen von Aktionspotenzialen, und auch die
Frequenz der Aktionspotenziale kann variieren, aber beiden Prozessen, weder einzeln noch
zusammengenommen, kann die Bedeutung des „Inhalts“ nicht abgelesen werden (genauso wenig wie
Nullen und Einsen bei der Digitalisierung). Wie entsteht aus Aktionspotenzialen, die über die Sehnerven im
Gehirn eintreffen, der Eindruck einer dreidimensionalen, unterschiedlich hellen und farbigen Welt? Wie
entstehen so unterschiedlichen Sinneswahrnehmungen wie Schmecken, Hören, Fühlen, Sehen und
Riechen, wenn die transportierten Signale alle gleich sind?
Bei der Umwandlung eines wie auch immer gearteten Reizes in ein Aktionspotenzial geht die Qualität des
auslösenden Reizes, geht das Original unwiederbringlich verloren. Der Reiz wird übersetzt in eine
Quantität (d.h. der Zahl der Impulse pro Sekunde) identischer Aktionspotenziale.
Da wir aber Qualitäten wahrnehmen, ist die logische Schlussfolgerung, dass unser Gehirn irgendwie aus
den ankommenden Quantitäten Qualitäten konstruiert. Dieser Gedankengang ist die Basis eines
erkenntnistheoretischen Ansatzes, die Grundlage des neurobiologischen Konstruktivismus, der auf den
Physiker und Physiologen Hermann von Helmholtz und den Psychologen Jean Piaget zurück geht.
Wirklichkeit ist nicht das Resultat einer Abbildung der Welt, sondern das Resultat von
Konstruktionsleistungen unseres Gehirns.
Das Resultat dieser Konstruktionen muss nicht „korrekt“ sein, es muss lediglich zu einer Reaktion
passen, bzw. das Resultat der Konstruktion muss zu einer der Situation entsprechenden Reaktion führen.
Vergessen wir nicht, dass all die beteiligten Strukturen samt ihrer Leistungsspektren im Laufe der
Evolution entstanden sind und daher zahlreichen Selektionskriterien ausgesetzt waren und es noch
immer sind. Das Gehirn eines Affen, der von einem Baum zum nächsten springt, muss in der Lage sein,
ein passendes Bild des Baumes zu konstruieren, zu dem er springt. Eine Fehlkonstruktion seines Gehirns
hätte tödliche Konsequenzen und dieser Affe wäre nicht mehr Teil einer Evolutionskette.
Es hat sich herausgestellt, dass der Ort von Neuronen und neuronalen Kernen bzw. Arealen das
entscheidende Kriterium für eine definierte Qualität der Wahrnehmung darstellt, ein Zusammenhang, den
man als Ortsprinzip bezeichnet. Dies lässt sich heutzutage leicht zeigen: Signale, die den visuellen Cortex
erreichen, werden immer und ausschließlich in visuelle Wahrnehmungen übersetzt, und zwar auch dann,
wenn der auslösende Reiz gar kein Lichtquant, sondern ein Schlag auf das Auge war, durch den die
Sinneszellen der Retina auf inadäquate Weise gereizt wurden. Die Signalkette wurde nicht zwar durch
einen Lichtreiz ausgelöst, aber sie wurde in einen Lichtreiz „übersetzt“. Dieses und ähnliche Phänome
kann man auch durch direkte punktuelle elektrische Reizung des Cortex oder mithilfe der transkraniellen
Magnetstimulation demonstrieren.
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