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BM – Grundlagen der Neurowissenschaften
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aon gmbh – academy of neuroscience
Nachdem nun das Zentrum für das „motorische“ (in Wirklichkeit grammatikalisch-syntaktische)
Sprachvermögen geortet war, entdeckte im Jahre 1874 Carl Wernicke im linken Temporallapen ein Areal,
das für das lexikalische Sprachverständnis zuständig war. Fällt dieses Areal aus, bleibt zwar die
Sprechfähigkeit des Patienten erhalten, jedoch kann er keine sinnvollen Sätze mehr bilden. Auch dieses
Areal wurde nach seinem Entdecker benannt und heißt bis heute "Wernicke-Areal".
Den endgültigen Beweis für die Lokalisationstheorie schaffte David Ferrier (1843-1928), als er 1881 auf
einem internationalen Kongress demonstrierte, dass sich durch elektrische Stimulation gezielte Funkti-
onsausfälle herbeiführen lassen.
Auch die Erforschung der Hirnanatomie schritt im 19. Jahrhundert schnell voran. 1811 entdeckte Charles
Bell (1774-1842) den funktionellen Unterschied zwischen den aus dem Hinterhorn und den aus dem
Vorderhorn des Rückenmarks austretenden Nerven. 1840 beschrieb Jules Gabriel Francois Baillarger
(1809-1890) erstmals korrekt den 6-schichtigen Aufbau der Großhirnrinde. Und 1869
verwendete Alexander Ecker (1816-1887) die bis heute gültige Terminologie der Hirnlappen und
Hirnwindungen.
Neben den neuen Erkenntnissen der Hirnanatomie gab es während dieser Zeit aber auch immer mehr
Hinweise auf die Gültigkeit der Zelltheorie. 1836 identifizierte Gustav Valentin (1810-1883) erstmals den
Kern von Nervenzellen und legte damit den Grundstein dafür, dass das zentrale Nervensystem aus
einzelnen Zellen aufgebaut sei.
Trotz dieser erstaunlichen Erkenntnisse konnte sich die Zelltheorie zunächst nicht gegen die vorherr-
schende Meinung durchsetzen, dass das Gehirn aus einer einheitlichen Masse bestünde. Erst die
zunehmende Leistungsfähigkeit der Mikroskope und die verbesserten Färbemethoden sollten diese Frage
endgültig klären.
1860 beschreibt Otto Deiters (1834-1863) die Fortsätze von Nervenzellen, die später die Bezeichnung
Dendriten und Axone bekamen.
Deiters war entsprechend der erste Forscher, der die Verbindung zwischen Fasern und „Ganglienkugeln“
nachwies. Der Begriff „Neuron“ wurde erstmalig 1891 vom deutschen Anatomen Wilhelm von Waldeyer
geprägt. Auch die Vermutung, dass Nervenzellen nicht miteinander verschmelzen, erhärtete sich und fand
ihre weitere Unterstützung in den außergewöhnlich deutlichen Präparaten, die Santiago Ramón y
Cajal (1852-1934) mit Hilfe der von ihm optimierten Färbemethode Golgis anfertigte. Den endgültigen
Beweis erbrachten erst elektronenmikroskopische Untersuchungen in den 50er Jahren des 20.
Jahrhunderts. Im Jahre 1891 wurde daraufhin die Bezeichnung "Neuron" etabliert. Ramón y
Cajal und Golgi erhielten 1906 den Nobelpreis für Physiologie und Medizin.
Auch hatte Ramón y Cajal bereits 1891 erkannt, dass Nerven die elektrischen Impulse nur in eine Rich-
tung senden, und er stellte die Vermutung an, dass es zwischen den Nervenzellen einen Spalt gäbe.
Dieser konnte jedoch mit den damaligen technischen Möglichkeiten noch nicht sichtbar gemacht werden.
Im Jahre 1897 gab Charles Scott Sherrington diesem Spalt den bis heute gültigen Namen "Synapse".