Grundlagen der Neurowissenschaften - page 13

BM – Grundlagen der Neurowissenschaften
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aon gmbh – academy of neuroscience
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Das 20. Jahrhundert
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren die Möglichkeiten der Forschung im Wesentlichen noch darauf
begrenzt, Gehirne von Verstorbenen zu sezieren, Patienten mit Hirnschäden zu untersuchen oder
Experimente an den Gehirnen von Versuchstieren vorzunehmen.
Ab der Mitte des Jahrhunderts wurden dann nach und nach Methoden entwickelt und Erfindungen
gemacht, die auch eine Untersuchung an lebenden und gesunden Gehirnen ermöglichten. Viele
Erkenntnisse, die wir heute haben und bereits als selbstverständlich ansehen, sind auf diese Entwicklung
zurückzuführen. Aber schauen wir uns die wichtigsten Ereignisse des 20. Jahrhundert der Reihe nach
etwas genauer an.
Ein wesentlicher Meilenstein war die um die Jahrhundertwende von Oskar Vogt gegründete "Neurologi-
sche Zentralstation" in Berlin-Buch. Ziel des Instituts war es, Zusammenhänge zwischen seelischen
Phänomenen und hirnanatomischen Strukturen zu finden. Zu dieser Zielsetzung zählte auch die Tätigkeit
des Mitarbeiters Korbinian Brodmann, der 1909 einen Hirnatlas mit 52 Arealen veröffentlichte. Diese
Einteilung des Gehirns ist unter der Bezeichnung "Brodmann-Areale" in die Medizingeschichte
eingegangen und wird noch heute verwendet.
In den 20er Jahren wurde das Elektroenzephalogramm (EEG) entwickelt, mit dem es möglich ist,
Spannungsschwankungen an der Kopfoberfläche aufzuzeichnen. Nach einigen Jahren der EEG-
Messungen an Tieren war es Hans Berger (1873-1941), der 1924 als erster ein EEG eines Menschen
aufzeichnete. Routinemäßig kam dieses Verfahren jedoch erst ab den 1950er Jahren zum Einsatz.
Eine weitere Erkenntnis des frühen 20. Jahrhunderts war, dass die Reizweiterleitung über den
synaptischen Spalt mittels Neurotransmitter geschieht. Vermutet wurde dies schon seit einiger Zeit, aber
erst durch die Untersuchungen und Experimente von Henry Dale (1875-1968) und Otto Loewi(1873-
1961) in den 1920er Jahren konnte dies endgültig bewiesen werden. Für Ihre Erfolge erhielten
Dale und Loewi im Jahre 1936 den Nobelpreis.
1939 fiel den beiden Engländern Alan Lloyd Hodgkin (1914-1998) und Andrew Fielding Huxley (1917-
2012) bei Experimenten mit Riesenaxonen von Tintenfischen auf, dass sich das Membranpotenzial einer
Nervenzelle im Verlauf eines Aktionspotenzials nicht nur ausgleicht, sondern umkehrt. Nach dem 2.
Weltkrieg konnten die beiden Forscher dann belegen, dass dieser Effekt auf einer spannungsabhängigen
Durchlässigkeit der Ionenkanäle für Natrium- und Kalium-Ionen zurückzuführen ist.
Eine andere wesentliche Entdeckung der Gehirnforschung machte der amerikanische Neurobiologe
Roger Sperry (1913-1994). In seinen Experimenten in den 1940er Jahren vertauschte er bei
Versuchstieren bestimmte Nerven und konnte belegen, dass die Tiere sich nicht an diese Veränderung
gewöhnten. In einem anderen Experiment entfernte Sperry die Augen von Versuchstieren und setzte sie
um 180 Grad gedreht wieder ein. Das erstaunliche war, dass die Nerven dennoch wieder an ihren
ursprünglichen Endpunkten anwuchsen. Die Tiere konnten wieder sehen, jedoch hatte sich ihr Sichtfeld
um 180 Grad gedreht. Eine Erklärung für das erneute Anwachsen der gekappten Nerven sah Sperry in
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