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FM - Wahrnehmung
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aon gmbh – academy of neuroscience
4. Das auditorische und das vestibuläre System
Auf den ersten Blick haben der Gehörsinn (auditorischer Sinn) und der Gleichgewichtssinn, der vom
vestibulären System vermittelt wird, wenig gemeinsam. Die Wahrnehmung von Schall als externem Reiz
ist mit bewusstem Erleben verbunden, während die Sinneseingänge des vestibulären Systems körper-
bezogen sind und normalerweise keine Empfindungen hervorrufen, obwohl sie permanent wirken. Erst im
Experiment oder in pathologischen Situationen (Schwindelgefühl) werden wir uns des Gleichgewichts-
sinns und des Drehsinns bewusst. Wie gezeigt werden wird, haben beide Sinnessysteme sehr viel
gemeinsam. Zum einen sind sie in ein und demselben Organ, dem statoakustischen Organ lokalisiert.
Zum anderen weisen die Mechanismen der Reiztransduktion große Gemeinsamkeiten auf. Zu Beginn soll
zunächst der Gehörsinn näher betrachtet werden.
Über den Gehörsinn erschließt sich uns die Welt des Schalls. Schallereignisse können zu völlig indiffe-
renten Hörempfindungen führen, die z.B. als Lärm empfunden, aber auch als äußerst bedeutungsvolle
Eindrücke wahrgenommen werden, nämlich Sprache und Musik. Die Sprache dient nicht allein der
Kommunikation, die auch mit averbalen Signalen, wenn auch in eingeschränkterer Form, möglich wäre,
wie das Beispiel der Singvögel, der Buckelwale oder der Primaten zeigt. Die abstrakte, verbale Sprache
ist eine der Grundlagen für kognitive Leistungen; sie ist bedeutsam für Abstraktion, die Benennung,
Darstellung und Repräsentation von Gedanken und Konzepten. Auch Musik ist abstrakt, gleichzeitig ist
sie aber in der Lage, die Gefühlslage der Menschen stärker zu beeinflussen als jedes andere
künstlerische Medium.
Der Ausfall der Hörfunktion hat für Betroffene z.T. größere Folgen als eine Erblindung. So haben Ertaubte
große Probleme, soziale Kontakte in gewohnter Weise zu pflegen. Der Verlust des Gehörs im Kindesalter
vor dem Spracherwerb wirkt sich auf die Entwicklung der Psyche und der Intelligenz in der Regel sehr
negativ aus. Bevor ein Kind lesen lernt, erhält es über die gesprochene Sprache sehr viele Informationen.
Die Bedeutung und Leistungsfähigkeit der akustischen Informationsübertragung erschließt sich auch
leicht bei einem Vergleich eines Telefonats mit einer email-Nachricht, die ja beide elektronisch übermittelt
werden. Die Tatsache, dass Tonaufzeichnungen (z.B. auf CDs oder als MP3-Files) leicht ohne Bilder aus-
kommen, Videoaufzeichnungen jedoch schlecht ohne Ton, erhellt ebenfalls die Bedeutung des Gehörs für
den Menschen.
Die herausragende Stellung des Gehörsinns erstaunt angesichts der Tatsache, dass das Ohr dasjenige
Sinnesorgan mit den wenigsten Sinneszellen ist, über das der Mensch verfügt. Dies ist ein deutlicher
Hinweis darauf, dass dem Gehörorgan ein äußerst leistungsfähiger Analyseapparat nachgeschaltet sein
muss. Durch komplexe, seriell-hierarchisch und gleichzeitig parallel ablaufende Prozesse führt das
Hörsystem eine ganze Reihe von Verarbeitungsschritten aus, die zu präkognitiven und kognitiven