FM-Wahrnehmung - page 54

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FM - Wahrnehmung
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aon gmbh – academy of neuroscience
4.5 Mikromechanik der Schalltransduktion
Bereits im letzten Jahrhundert wurden Theorien über die Schallanalyse im Innenohr formuliert. Der
deutsche Physiker Hermann von Helmholtz war prominentester Vertreter der Resonanzhypothese. Deren
Grundlage war die Annahme, dass die Basilarmembran aus parallel angeordneten, quer zur Längsaus-
dehnung des Ductus cochlearis gespannten Resonatoren besteht, die durch den eintreffenden Schall
entsprechend ihrer Eigenfrequenz angeregt werden. Die Resonatoren sollten so angeordnet sein, dass
sich solche mit hohen Eigenfrequenzen an der Basis des Cortischen Organs befinden und dass die
Eigenfrequenzen zum Helicotrema hin stetig abnehmen. Mit dieser Einortshypothese wurde also jedem
Ort der Basilarmembran eine bestimmte Frequenz zugeordnet. Weiterhin nahm man an, dass die
gesamte Frequenzanalyse durch die Basilarmembran geleistet würde; nachgeschaltete neuronale
Prozesse wurden bei dieser Hypothese nicht berücksichtigt.
Der ungarische Physiker Georg von Békésy studierte Mitte des letzten Jahrhunderts erstmals die
Hydromechanik von Ohren tierischer und menschlicher Leichen. Seine Beobachtungen an der eröffneten
Cochlea widerlegten die Resonanztheorie, und von Békésy, unterstützt durch den Mathematiker Otto F.
Ranke, stellte die Wanderwellenhypothese auf, die folgenden Sachverhalt aufzeigt: Die durch Schall
ausgelösten Schwingungen des Steigbügels führen zu Volumenverschiebungen der Perilymphe der Scala
vestibuli und der Scala tympani. Da die Flüssigkeit inkompressibel ist, wird das Tympanum am runden
Fenster gegenläufig bewegt. Die Volumenverschiebung lenkt die cochleäre Trennwand zunächst im
basalen Teil aus (Abb. 4.4 a). Diese Bewegung setzt sich in Richtung des Helicotrema wellenförmig, wie
die Schwingungen an einem Seil, fort. Dabei nehmen die Wellenlängen zum Helicotrema hin ab und die
Schwingungsamplitude zunächst zu (Abb. 4.4 b, c). Nach dem Erreichen des Maximums wird die Welle
stark gedämpft und bricht ab. Der Ort der maximalen Auslenkung hängt von der Frequenz des
Schallsignals ab: bei hohen Frequenzen liegt er am Stapes bei tieferen Frequenzen in Richtung
Helicotrema (Abb. 4.4 c). Da jede Frequenz tonotop, d.h. an einem bestimmten Ort der Basilarmembran
repräsentiert ist (Ortsprinzip), stellt auch die Wanderwellenhypothese letztlich eine ‘Einortshypothese’ dar.
Komplexe, d.h. aus mehreren Frequenzen zusammengesetzte Schallereignisse werden demnach an
verschiedenen, hintereinander gelegenen Orten der Basilarmembran abgebildet. Dieses als Frequenz-
dispersion bezeichnete Phänomen hat mehrere physikalische Ursachen: (1) Die Breite und die Masse der
Basilarmembran nehmen von der Basis zur Spitze der Cochlea hin zu; an der Spitze ist sie etwa fünfmal
so breit wie an der Basis. Ihre Massenträgheit erhöht sich dadurch, gleichzeitig nimmt die Steifheit bis zu
einem Faktor von hundert stetig ab. Dies bewirkt eine Abnahme der Wellenlänge und eine Vergrößerung
der Amplitude. Unterschiede der Steifheit und Massenträgheit bedingen auch, dass die Welle unabhängig
vom Ort der Auslösung stets an der Basis der Trennwand beginnt. (2) Die Auslenkungen des Stapes
bewegen die Perilymphe zunächst in Längsrichtung, d.h. vom ovalen Fenster in Richtung zum
Helicotrema. In dieser Richtung nimmt jedoch die Kanaltiefe der Cochlea ständig ab. Wenn die
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