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BM – Grundlagen der Neurowissenschaften
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aon gmbh – academy of neuroscience
5.3
Die Evolution der Nervensysteme
Die Frage, wie im Laufe der Evolution die Vielfalt der verschiedenen Nervensysteme im Tierreich
entstanden ist, kann bis heute nicht eindeutig beantwortet werden. Frühere Theorien, nach denen ein
großer Variantenreichtum komplexer Strukturen immer auf eine einzige und einfache Grundstruktur
zurückzuführen sei, kann beim aktuellen Wissensstand über die verschiedenen Nervensysteme nicht
mehr aufrechterhalten werden – jedenfalls nicht in dieser Allgemeingültigkeit. Viele Experten nehmen,
dass im Laufe der Evolution in verschiedenen taxonomischen Gruppen das Prinzip des Nervensystems
mehrfach und unabhängig voneinander entstanden ist, andere wiederum sehen, meist aufgrund der
Übereinstimmung in gemeinsamen „Entwicklungsgenen“, einen einzigen Ursprung eines
Zentralnervensystems und viele Weiterentwicklungen, die dann auch zahlreiche „Verluste“ oder
sekundäre Vereinfachungen vorsieht. Dies ist gegenwärtig heftig umstritten.
So könnte das Bauprinzip der Zentralisierung von Neuronen, der Cephalisation, bei Chordaten (zu denen
auch die Wirbeltiere zählen), Arthropoden (zu denen auch die Insekten gehören), Nematoden, Anneliden
und Mollusken unabhängig voneinander entstanden sein, und sogar innerhalb der Gruppe der Mollusken
(Schnecken, Muscheln, Kopffüßer) vermutet man, dass eine Zentralisierung des Nervensystems drei- bis
viermal unabhängig voneinander erfolgt ist.
Andere Experten nehmen an, dass ein dreiteiliges Kopfganglion oder Gehirn für alle
bilateralsymmetrischen Tiere ursprünglich ist und vielfach komplexer geworden ist oder vereinfacht
wurde.
Nach bisheriger Meinung gibt es mindestens fünf morphologisch grundsätzlich unterschiedliche Typen
der neuronalen Organisation, die nach heutigem Wissen nicht miteinander verwandt sind, also auch nicht
auseinander hervorgegangen sein können. (1) das dorsale Neuralrohr der Chordaten, (2) die ventralen
„Stricke“ der Arthropoden, Anneliden und anderer Gruppen, (3) die Tetraneurie (vier Längsstränge gehen
von einem Schlundring aus) der Mollusken, (4) das basiepidermale Nervennetz der Hemichordaten, des
kleinen Tierstamms der Kiemenlochtiere, (5) das spezielle System der Echinodermata (zu denen
Seesterne und Seeigel gehören).
Selbst das Neuron könnte mehrfach entstanden sein, so etwa bei Coelenteraten und allen anderen Tieren
(die Schwämme hätten danach ihre Nervensysteme verloren). Die Nervenzellen entstehen im Laufe der
Embryonalentwicklung bei verschiedenen Tierstämmen nicht immer aus demselben embryonalen
Gewebetypen. Das aber müssten sie tun, wenn es ein universelles evolutionäres Programm für die
Entwicklung von Nervenzellen aus embryonalen Stammzellen gäbe. Außerdem fällt die Analyse der
genetischen bzw. molekularen Ausstattung von Neuronen bei den verschiedenen Tierstämmen zu
unterschiedlich aus, um mit Sicherheit von einem „Ur-Neuron“ ausgehen zu können, aus dem sich dann
in den verschiedenen Tierstämmen die heutigen Neuronen entwickelt hätten. Verfechter der Theorie des
„gemeinsamen Ursprungs“ weisen jedoch darauf hin, dass mehr oder weniger alle Tiere in ihrem Körper
und Nervensystem dieselben Gene für die Grundorganisation aufweisen, auch wenn diese zu ganz
unterschiedlichen Strukturen führen können (Bsp. Das Wirbeltierauge und das Auge von Octopus