Grundlagen der Neurowissenschaften - page 37

BM – Grundlagen der Neurowissenschaften
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aon gmbh – academy of neuroscience
5. Nervensysteme im Tierreich
Einer der offensichtlichsten Trends der Evolution ist die schrittweise Zunahme an Komplexität. Sehr alte,
also in der Evolutionsgeschichte sehr früh entstandene Organismen, besitzen in aller Regel einfach
organisierte Gewebe und Organe und haben einen recht simplen Grundbauplan. Später entstandene
Spezies weisen deutlich komplexere Gewebe, Organe – besonders Sinnesorgane – und Baupläne auf.
Die Verteilung und Organisation von Nervenzellen und die Struktur von Nervensystemen sind im Tierreich
sehr unterschiedlich und entsprechen genau dieser Regel: evolutionär alte Organismen besitzen einfach
strukturierte, evolutionär neue Organismen besitzen komplex strukturierte Nervensysteme. Dieser Trend
ist jedoch eine Regel, kein Gesetz. Und zu jeder Regel gibt es Ausnahmen.
5.1
Nervensysteme der Wirbellosen
Dass Einzeller (Protozoa) kein Nervensystem besitzen, erklärt sich von selbst. Aber sowohl pflanzliche als
auch tierische Einzeller sind in der Lage, auf verschiedene Reize wie Licht, Temperatur, chemische
Gradienten und taktile Reize zu reagieren. In den Zellmembranen der meisten Einzeller konnten
spannungsgesteuerte Kalium- und Calciumkanäle nachgewiesen werden.
Schwämme (Porifera) gehören zu den ältesten Vielzellern. Allerdings besitzen sie keine „echten“ Gewebe,
da sich die einzelnen Zellen relativ leicht voneinander trennen und wieder zusammenfügen lassen.
Obwohl man bei vielen Schwämmen Reizleitung und auch Kontraktilität beobachten kann, und obwohl
man bei einigen Arten Neurotransmitter (wie Adrenalin und Noradrenalin) gefunden hat, konnten bisher
weder Sinnes-, noch Muskel- oder Nervenzellen eindeutig identifiziert werden.
Zu den Hohltieren (Coelenterata) zählen Quallen, Seeanemonen, Korallen und Polypen. Ein
charakteristisches Kennzeichen ist ihr radiärsymmetrischer Bauplan. Vertreter dieser Tiergruppe, die
Polypen, besitzen das einfachste aller Nervensysteme im Tierreich, das entsprechend seinem Aussehen
als diffuses Nervennetz bezeichnet wird. Einzelne Neuronen sind wie ein Netz verteilt und über Synapsen
miteinander verknüpft. Bei Quallen und Medusen werden die Neuronen auch zu Ringen
zusammengeschlossen, die eine ziemlich komplizierte Reizverarbeitungs- und Fortleitungsweise zeigen,
die wesentlich auf der Wirkung von Neuropeptiden beruht. Die Nervenzellen produzieren aber auch
Aktionspotenziale und können diese in alle Richtungen leiten.
Plattwürmer (Plathelminthes) besitzen das einfachste bilateralsymmetrische (= spiegelsymmetrische)
Nervensystem. Bei diesem sehr alten Tierstamm ist erstmals eine deutliche Organisationsstruktur in
Haupt- und Nebenbahnen zu erkennen, und man kann acht Längsstränge und mehrere Kommissuren
(verbindende Querstränge) unterscheiden. Im Querschnitt kann man erkennen, dass die Neuronen
kreisförmig am äußeren Rand des Körpers liegen. Plattwürmer besitzen auch eine Art Gehirn, ein
sogenanntes Kopfganglion, in dem zahlreiche Neuronen konzentriert sind, und das hauptsächlich die
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