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FM - Wahrnehmung
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aon gmbh – academy of neuroscience
Dieses Modell der seriellen Sprachverarbeitung und -generierung muss aufgrund der Befunde der letzten
Jahre revidiert werden. Diese Befunde basieren auf detaillierten neurolinguistischen Studien an Patienten
mit sprachlichen Fehlfunktionen, die beispielsweise nach Hirnläsionen durch Schädeltraumata oder einem
Hirnschlag auftraten. Kurzfristige Störungen von Sprachfunktionen durch eng lokalisierte elektrische oder
pharmakologische Stimulation von Hirnstrukturen während Hirnoperationen wurden ebenfalls
herangezogen. Daneben stehen mit verbesserten elektrophysiologischen Methoden (Ableitungen
neuronaler Aktivität mit Mikroelektroden während einer Hirnoperation, Elektroencephalogram) und den
bildgebenden Verfahren (PET, fMRT, DTI) Möglichkeiten zur Verfügung, Untersuchungen zur Physiologie
des Spracherkennens und des Sprechens bei wachen, gesunden Versuchspersonen durchzuführen.
Die neuen Modellvorstellungen weichen in mehreren Punkten von dem Wernicke-Geschwind-Modell ab.
Zwar gilt weiterhin, dass bei den meisten untersuchten Personen der perisylvische Cortex der linken
Hemisphäre wesentlich an der Sprachverarbeitung beteiligt ist. Verschiedene Sprachfunktionen (z.B.
Phonemerkennung, Syntax, Benennen von Begriffen aus verschiedenen semantischen Kategorien) sind
jedoch in verschiedenen Subsystemen manifestiert, die auch außerhalb der klassischen Sprachregionen
liegen können. Jedes Subsystem umfasst sowohl lokalisierbare frontale und temporo-parietale
Cortexareale als auch einzelne Neuronenpopulationen, die verstreut im Cortex liegen (Abb. 4.10 b, c). In
Analogie zum visuellen System nimmt man nun zwei Verarbeitungswege an: Ein dorsaler Strang stellt die
Verbindung des sensorischen Sprachzone mit dem artikulatorischen System her und dient primär der
Sprachwahrnehmung (
mapping sound to articulation
). Ein zweiter ventraler Strang verbindet die
sensorische Sprachzone im mittleren Schläfenlappen mit dem ventrolateralen präfrontalen Cortex und
dient der Spracherkennung (
mapping sound to meaning
). Der dorsale Strang ist der, welcher über den
Fasciculus arcuatus verläuft. Der ventrale zieht über die Capsula extrema (Abb. 4.11).